Herla - Ulrike Maria Becker/Popilarski

Mit »Herla« ist Ulrike Maria Becker/Popilarski ein sozialkritischer Roman gelungen, der emotional bewegt und zur Selbstreflexion anregt!
Thema:
In »Herla« geht es um die Thematik der Obdachlosigkeit. Die Titelfigur organisiert ein Tippel Theater für Obdachlose, an dem auch die Altenpflegerin Josi mitwirkt und somit neue Freunde und einen neuen Blick auf diese gesellschaftlich schlecht positionierte Gruppe bekommt. Gleichzeitig muss sie grausame Ereignisse aus ihrer Vergangenheit aufarbeiten. Ergreifende Schicksale, leuchtende Hoffnungsmomente, Trost in der Nähe zu Gott und tiefgreifende Freundschaft machen diese Geschichte zu etwas ganz Besonderem.
Lob:
Zunächst einmal möchte ich auf ein paar Randinformationen rund um »Herla« eingehen, da ich sie in diesem Fall für sehr relevant halte: Dieses Buch wurde bereits 2003 verlegt und nun, im Jahre 2021, als überarbeitete Neuauflage und Hörbuch veröffentlicht. Für mich zeigt das, wie wichtig dieses Buch für die Autorin ist, wenn sie sich nach all den Jahren nochmal so intensiv mit dem Roman beschäftigt. Die meisten Ereignisse und Figuren aus »Herla« beruhen im Übrigen auf authentischen Begebenheiten. Mir erscheint es auch noch wichtig zu erwähnen, dass die Autorin Ulrike Maria Becker, vormals Popilarski, selbst jahrelang im Bereich der der allgemeinen Lebenshilfe und praktischer Begleitung in Problemsituationen tätig war und sogar einen "Sozialen Verteilerkreis" aufbaute. Wenn man diese Dinge weiß, wird die Botschaft des Buches gleich noch intensiver. »Herla« startet mit einer sehr humorvollen alphabetischen Personenliste, die mich amüsiert und außerdem einen guten Überblick über die zahlreichen Figuren des Romans gegeben hat. Besonders schmunzeln musste ich bei Polly, der folgendermaßen vorgestellt wurde: ,,Passionierter Nörgler. Hat kein Problem mit Alkohol – nur ohne!" Herla, die Titelfigur, ist eine große, bizarr gekleidete Frau mit auffälligen langen, roten Locken und eine Ausstrahlung, die von Selbstachtung und Sicherheit zeugt, ,,gebaut auf einem Fundament, das ausschließlich Schwäche, Schmerzen und Demütigung gewesen war." Auf Josis Frage, was sie mache, antwortet sie mit: "Ich lebe.", und diese kleine Aussage charakterisiert sie meiner Meinung nach perfekt. In Gesprächen mit Gott findet sie Halt und Trost, und sie hat ein übergroßes Bedürdnis nach Freiheit. Herla ist einzigartig - ein Unikum - und engagiert sich für Obdachlose, zu denen sie selbst einmal gehörte. Die eigentliche Protagonistin und Erzählerin der Geschichte aber ist Josi, der Sonnenstrahl. Josi wurde im Alter von 12 Jahren mehrfach körperlich missbraucht. Aufgrund von diesem Trauma glaubt sie nicht, dass sie jemals die Liebe eines Mannes genießen könne. Ihre Entwicklung diesbezüglich ist sehr realistisch und glaubwürdig niedergeschrieben und gestaltet. Josi ist unglaublich engagiert und vergisst manchmal ein bisschen sich selbst in ihrem altruistischen Verhalten - man kann sie einfach nur gern haben. Ich finde es wunderbar, wie Ulrike Maria Becker das Thema der Obdachlosigkeit literarisch aufgearbeitet hat. So habe ich das wirklich noch nie gelesen, obwohl es wichtig ist, auch mal diese Perspektive zu beleuchten. Projekte wie das Tippel Theater oder die Berber WG geben den Obdachlosen Mut, Selbstachtung und den Glauben an die eigenen Fähigkeiten zurück, genauso wie das Gefühl, endlich mal etwas zu erreichen. Sie schenken ihnen Hoffnung, und man darf nicht vergessen, dass Werte wie Freundschaft, Vertrauen und Liebe nahezu alle Wunden heilen können, wenn man sie denn lässt!
Kein Mensch kann sich sein Schicksal aussuchen, und deshalb darf man auch niemandem einfach so Vorwürfe machen. Denn Fakt ist: Jeder einzelne Mensch auf diesem Planeten ist ein Individuum mit eigenen Empfindungen, Wünschen und einem persönlichen Ehrgefühl. Wenn man alle Äußerlichkeiten wegnimmt, sind wir alle gleich, mit all unseren Hoffnungen und Zweifeln. Genau deshalb sollten wir auch jederzeit füreinander da sein. Natürlich: Jeder hat es zu einem gewissen Grad selbst in der Hand, etwas aus seinem Leben zu machen. Einige schaffen es, ihre Ziele zu erreichen, andere aber sind so tief in ihrem Teufelskreis gefangen, dass sie es nicht hinbekommen. Klarerweise könnte man jetzt auch einwerfen, dass das ein sehr romantisiertes Bild von Obdachlosen ist, allerdings geht es darum, Vorurteile abzubauen, und in dem Buch wird auch erwähnt, dass es auch skrupellose, egositische Schmarotzer unter den Obdachlosen gibt, dass aber niemand das Recht hat, alle von ihnen pauschal in eine Schublade zu stecken. Genauso wird das Verhalten der Menschen kritisiert, die häufig nichtmal dazu bereit sind, über die Ursachen von Obdachlosigkeit nachzudenken und die in jedem nicht berufstätigen Menschen sofort einen faulen Taugenichtskeiner sehen. Es hat mich richtig getroffen, als in »Herla« erwähnt wurde, dass viele Menschen das alte Brot lieber den Vögeln oder Schweinen zum Fraß vorwerfen, als es einem anderen Menschen ohne Bezahlung geben zu wollen. Wenn man bedenkt, wie viele Leute auf solche kleinen Gesten angewiesen sind, ist das wirklich schockierend. »Herla« behandelt darüber hinaus Themen wie HIV, Krebs, Schwangerschaft und Polizeikorruption und lenkt den Fokus auf folgende Botschaft: Wende den Blick der Sonne zu, und du wirst die Schatten des Lebens nicht sehen. Eine Szene, die ich irgendwie total lustig und gleichzeitig super ergreifend fand, war das Schmücken des Weihnachtsbaums mit Zigarettenkippen als Kerzenersatz, einer Kette aufgereihte Kronkorken als Girlanden, verschiedene Papierknüddel, Schrauben, leere Schnapsflaschen und kleine Wurzeln als Baumschmuck. Ulrike Maria Becker schreibt sehr gefühlvoll und klangbetont, wodurch ein angenehmer Lesefluss entsteht. Ihre Erzählung weist ein breites Vokabular auf. Dadurch, dass sie beim Beschreiben auf alle Sinneseindrücke eingeht, ist der Text sehr anschaulich und man kann sich alles gut vorstellen. Besonders haben mir die Settingsbeschreibungen imponiert. Kleine Details und Begriffe lassen das Buch authentischer erscheinen, wie beispielsweise die Abkürzung OFW, die für Personen ohne festen Wohnsitz steht, oder auch Wissen, was erst einleuchtend, wenn man sich damit beschäftigt: Dass Weihnachten die schlimmste Zeit für Obdachlose sind, der Sonntag der schlimmste Tag und Frauen auf der Straße rar. Die Sprechweise ist jeweils an die Figuren angepasst, was der Geschichte ebenfalls einen realistischen Touch verleiht. Alle Charaktere sind umfassend ausgearbeitet und bleiben durchweg glaubwürdig. Das Ende der Geschichte habe ich als sehr berührend und passend empfunden. Und die Moral von »Herla«? Ein Mensch braucht im Leben eigentlich gar nicht viel, nur einen anderen Menschen, der einen beachtet und als Menschen achtet.
Lieblingsfigur:
Meine Lieblingsfigur aus »Herla« ist ganz klar Josch. ,,Er hat sich ein Leben außerhalb der Straße vorgestellt, hat sein Ziel gesteckt und nicht eher aufgegeben, bis er es erreicht hatte." Er hat geträumt und ist immer wieder aufgestanden, ganz egal wie schwer die einzelnen Enttäuschungen auch
gewesen sind. Das finde ich wirklich bewundernswert! Josch ist klug, liebevoll, gutmütig und wird von Josi auch mal als ,,Bär" beschrieben, was ich ganz passend finde.
Kritikpunkte:
Kommen wir nun zu den Kritikpunkten. Zunächst einmal muss ich sagen, dass die Charaktere im Buch zwar alle sehr schön ausgearbeitet und interessant gestaltet sind, in ihre Fülle mich jedoch des Öfteren zu Verwechslungen verleitet haben. Mir persönlich waren es insgesamt zu viele Figuren, was hin und wieder auch für Verwirrung beim Lesen gesorgt hat. Abgesehen davon, dass an manchen Stellen noch mehr show don't tell gegangen wäre, häufen sich in »Herla« immer wieder längere zeitraffende Beschreibungspassagen und Zeitsprünge, die die Spannung der Geschichte abschwächen und die Handlung entschleunigen. Aus diesem Grund ging es mir zum Teil leider so, dass die Seiten nicht wirklich dahinflogen und ich mich eher zum Lesen animieren musste, während ich an anderen Stellen ganz schnell weitergeblättert habe, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es wohl weiter geht. Darüber hinaus wirkte »Herla« oftmals ,,gezwungen moralisch" und war hin und wieder ähnlich strukturiert, z.B., dass eine Figur kurz nach ihrem Auftritt monologhaft von ihrer Leidens- bzw. Lebensgeschichte berichtet hat. Da hätte ich mir etwas mehr Varianz gewünscht. Der letzte Aspekt spielt nicht in die Bewertung mit hinein, weil das meiner Meinung nach kein Kriterium sein sollte, aber dennoch möchte ich das Thema ansprechen: Ich persönlich finde das Cover optisch leider nicht ansprechend. Zwar kann ich mir die Motivik nach Beendigung des Buches erschließen, in einer Buchhandlung beispielsweise hätte ich allerdings nicht nach »Herla« gegriffen, was wirklich schade ist, weil mich dieser Roman sehr bereichert hat!
Fazit:
»Herla« von Ulrike Maria Becker/Popilarski, publiziert von KlausStudio, ist ein sozialkritischer und berührender Roman, dessen Morallehren sich jeder einzelne von uns vor Augen halten sollte. Ich vergebe 4,2 von 5☆ und bedanke mich herzlichst für das Rezensionsexemplar!